Wie können heute lebende Personen die Schrecken des Holocaust begreifen und nachvollziehen? Wie können wir das Trauma dieses Völkermordes wirklich fassbar und erlebbar machen? Diese Fragen sind heute, 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, aktueller denn je, denn nach und nach sterben die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges und der Shoah. Wir sind die letzten Generation, die noch das Privileg hat, diese Zeitzeugen befragen und interviewen zu können. Für alle Generationen, die nach uns kommen, wird der schrecklichste (weil systematischste) Völkermord in der Geschichte der Menschheit immer ferner, immer historischer, immer unbegreifbarer sein.

Mit diesen Fragen habe ich mich auf meinen Vortragsreisen in Israel sehr intensiv auseinander gesetzt. Mich hat dabei besonders interessiert, ob es möglich ist, die Traumata der Shoah für heute lebende Menschen wahrhaft begreifbar oder gar erlebbar zu machen.
Schon vor mir haben sich andere Autor*innen mit dieser Frage auseinander gesetzt: In der Afroamerikanischen Literatur werden beispielsweise die Traumata der Sklaverei literarisch verarbeitet und viele Autor*innen sind in ihren Werken der Frage nachgegangen, wie man diese lange vergangene Zeit fassbar und erlebbar machen kann.
Für mich liegt die Antwort auf diese Frage in der Literatur.
In der Fiktion sind Dinge möglich, die im realen Leben unmöglich sind. Zeitreisen zum Beispiel. Oder Erinnerungen an ein Leben, das nicht unser eigenes ist.
In „Am Boden des Himmels“ erlebt die palästinensische Hauptfigur Layla die Traumata der Shoah am eigenen Leib, durch plastische Albträume von einer Existenz, die nicht ihre eigene ist:

(Layla) kann nicht aufhören, mit wildfremden Menschen zu weinen und das raubt ihr den letzten Nerv. Sie würde freudig jede Nacht schweißgebadet aufwachen, wenn sie nur damit aufhören könnte, den Schmerz anderer Menschen zu fühlen. Denn natürlich weiß sie, was ihre Albträume zu bedeuten hatten. Sie war schließlich dabei, daran gibt es nichts zu rütteln. Sie war dabei, als Menschen wie Vieh in Züge verladen und wie Holzscheite in Öfen geschoben wurden. Sie war, verdammt nochmal, eine von ihnen – oder jedenfalls so gut wie, denn was ist denn schon der Unterschied zwischen Traum und Realität? Und weil sie eine von ihnen ist, kann sie nicht aufhören, über die Angst dieser Leute nachzudenken. Layla beginnt zu verstehen, warum manche Leute es vermeiden, ihre Feinde als Menschen zu bezeichnen: Wenn man es tut, stellt man fest, dass man nicht anders kann, als Mitgefühl mit ihnen zu empfinden und dann steht plötzlich alles auf dem Kopf.  –  Joana Osman, „Am Boden des Himmels“, S. 230

Nun stehen wir wieder vor so einem Scheidepunkt in der Geschichte: Jetzt, da die letzten Zeitzeugen immer weniger werden und die Anzahl der Holocaust-Leugner sprunghaft anzusteigen scheint, ist es unsere Verantwortung und unsere Verpflichtung, die Erinnerung an diese schrecklichen Verbrechen zu bewahren und für zukünftige Generationen fassbar zu machen. Wenn wir nicht wollen, dass sich so etwas jemals wiederholt, dann dürfen wir nicht aufhören, uns mit dem Grauen jener Zeit auseinanderzusetzen. Immer lauter werden die Stimmen, die sagen, dass „es jetzt langsam mal reicht“ mit der Erinnerungskultur, oder die die Shoah als einen „Vogelschiss in der Geschichte Deutschlands“ bezeichnen.
All jenen müssen wir unseren Anstand, unsere Menschlichkeit, unsere Empathiefähigkeit und vor allem unser Wissen über die Zusammenhänge entgegensetzen. Politik, Geschichte und Weltgeschehen sind nicht Dinge, die uns passieren. Völkermorde, Kriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nicht Ereignisse, die einfach so geschehen. Sie liegen buchstäblich in unserer eigenen Hand.
Sorgen wir also dafür, dass wir uns weiterhin erinnern.
#Auschwitz75 #Neveragain

Joana Osman, am 27. Januar 2020