Am Freitag, 02.12.2022, hatte ich die Ehre, bei der Abschlussveranstaltung des Münchner Literaturfestes dabei zu sein. Kuratiert wurde die „Münchner Schiene“ von meinem geschätzten Kollegen BENEDIKT FEITEN („Leiden Centraal“, „So oder so ist das Leben“, Voland & Quist Verlag).
Mit mir dabei waren: MEIKE HARMS, Poesiepädagogin und Bühnenpoetin, Bayerische Meisterin im Poetry Slam. Und Sportfreunde-Stiller-Schlagzeuger FLORIAN WEBER. Sein dritter Roman »Die wundersame Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken« (Heyne Hardcore) ist Anfang 2022 erschienen. Der Autor und Übersetzer MEHDI MORADPOUR musste krankheitsbedingt kurzfristig absagen. Zum Glück sprang DANIEL BAYERSTORFER spontan für ihn ein.
Es war eine grandiose Veranstaltung und mir eine große Ehre und Freude. Danke an alle Mitwirkenden für diesen fulminanten Abend, der wieder einmal gezeigt hat, welch (politische) Kraft die Literatur entfalten kann, wenn man sie lässt.
Meinen Text findet ihr unten.
„Was wabert da herum? Wer spukt in oder über unseren Köpfen? Schreckgespenst oder Hausgeist? Zum Abschluss der »Münchner Schiene« des Literaturfestes München antworten junge Münchner Autor*innen den verklungenen literarischen Stimmen der Stadt: Mit Humor und Respekt, begeistert und entgeistert, unverfroren und sehnsüchtig. Sie geben Widerworte, grüßen durch die Zeit, lassen gegenwärtige Positionen im Vergangenen widerhallen. Und im Anschluss werden bei Tanz und Musik die bösen Geister ausgetrieben und die guten zum Verweilen eingeladen.“
https://www.literaturhaus-muenchen.de/veranstaltung/geisterfahrt/
Mein Text als Antwort auf Ernst Tollers „Brief aus dem Gefängnis“:
Wir waren schon mal weiter,
glaube ich.
Zweieinhalb Schritte weiter.
Oder auch nicht.
Vielleicht ist dieser Gedanke
nur ein Gefühl.
Ein Subjektives.
Aber dort draußen parkt ein SUV
mit laufendem Motor
an der Heckscheibe gut sichtbar ein Aufdruck:
Heul leise, Greta.
Und verhaftet werden jene,
die verzweifelt für ein Abwenden der Katastrophe demonstrieren
Und nicht diejenigen, die sie verursachen.
Warum eigentlich?
Überhaupt: Protest.
Hier gehen Menschen auf die Straße,
um gegen eine „Diktatur“ zu protestieren,
während anderswo andere Menschen
in einer realen Diktatur
sich für die Freiheit
erschießen lassen
Anderswo ist man weiter.
Und da draußen ist schon 2022
Und wir denken mit ernsten Gesichtern
laut darüber nach,
wann es okay ist,
Menschen im Meer ertrinken zu lassen.
Letzen Monat gab es bei mir im Ort
eine Gedenkveranstaltung
des Vereins für Heimatvertriebene
aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen und dem Sudentenland
Komplett mit Pauken und Trompeten
und einer eigens für den Anlass
polierten Posaune.
Ich sage ja nicht, dass wir hier mit zweierlei Maß messen, aber
Vor einigen Tagen
flohen drei Männer aus Nigeria
auf dem Ruderblatt eines Tankers
Elf Tage und elf Nächte
mit nichts zum Festhalten
außer der Hoffnung.
Kein Mensch überquert freiwillig auf diese Weise einen Ozean
Es sei denn, das Meer ist sicherer als das Land.
Und dann sind da noch die Kinder,
die nichts kennen, außer den Krieg.
Blutend aber glücklich liege ich
auf einer Geburtsstation
im Arm pures Glück
Im Fernsehen Mariupol
Mütter, Babies, alle blutend, meistens tot
keine Glückseligkeit.
Dann stehe ich abends in der Küche
und während ich den Müll trenne
und mir überlege,
ob der Kürbisbrei, den ich meinem Kind gebe
frei von Schadstoffen ist,
nehmen Kinder auf einer Müllkippe in Mali
meinen alten Laptop auseinander
Komplett mit Lithium Ionen Akku und allem
Und sind barfuß dabei.
Die Kinder.
Die Welt.
Die Brust tut mir weh. Das ist die Seele, die schmerzt.
Weil ich, geboren und aufgewachsen unter einem bombenfreien Himmel,
nicht einmal im Ansatz ahnen kann, wie es sich wirklich anfühlt, im Krieg.
Vielleicht hat er Recht, wenn er sagt,
dass wir Getriebene sind, die sich für Treibende halten
Getriebene eines Schicksals, das uns umklammert solange die Erde atmet.
Doch am Ende haben wir es in der Hand, wohin wir gehen.
Zweieinhalb Schritte vor – oder zurück.
Wir haben die Wahl.
Denn wir sind die Schöpfer und die Schöpfung
Die Träumer und der Traum
Am Ende unserer Schritte sind wir das Schicksal
Da, wo ich herkomme,
in der privilegierten westlichen Welt,
nennt man das was ich habe, Weltschmerz.
Welch seltsames Wort.
München, 02.12.2022 – Joana Osman