Das vergangene Jahr war, um es mit einem euphemistischen Wort zu sagen, herausfordernd. Und das gilt wohl für die allermeisten von uns, was auch ein seltenes Phänomen ist: Es gibt wenige Augenblicke in der Menschheitsgeschichte, in denen wir alle im selben Boot sitzen. Mehr oder weniger.
2020 war jedenfalls auch für mich ein intensives, kurioses und zuweilen schwieriges Jahr, allerdings unterbrochen von großartigen Highlights wie der Verleihung des Phantastikpreises der Stadt Wetzlar für meinen Roman AM BODEN DES HIMMELS im September.
Dennoch – die Pandemie und alles was daraus an Konsequenzen folgt, fordert ihren Tribut bei fast allen.
Inzwischen heißt es, dass die Corona-Pandemie, ähnlich wie eine riesige Naturkatastrophe oder wie ein Weltkrieg, ein kollektives Trauma bewirken könnte, nicht nur auf persönlicher, sondern auf globaler Ebene.
Also mit Trauma kenne ich mich aus. Es ist, schon aufgrund meiner Familiengeschichte, gewissermaßen mein Metier.
Trauma, das bezeichnet nicht ein einschneidendes und schreckliches Ereignis, sondern die Reaktion darauf. Ein Trauma entsteht immer dann, wenn unser Gehirn mit einem Schock oder einer andauernden stark belastenden Situation nicht mehr fertig wird.
Ähnlich wie bei einer Antilope, die von einem Löwen gejagt wird, gerät unser Nervensystem bei akuter Gefahr in einen Zustand höchster Erregbarkeit: Adrenalin flutet unseren Körper und je nach Situation kämpfen oder fliehen wir – oder wir stellen uns tot.
Dabei spielt es gar keine Rolle, ob die Situation tatsächlich lebensbedrohlich ist, oder ob wir sie nur als potentiell lebensbedrohlich interpretieren – für unser Gehirn ist es dasselbe. Dieser Zustand alleine bewirkt noch kein Trauma – vielmehr sind Kampf, Flucht oder Totstellen äußerst gesunde und hilfreiche Reaktionen auf eine unerhört bedrohliche Situation.
Traumatisch wird es erst dann, wenn wir den Stress anschließend nicht mehr aus unserem Nervensystem bekommen, etwa weil wir nicht richtig mitbekommen, dass die Gefahr vorüber ist. Oder weil wir die Gefühle von akutem Stress nicht abbauen, sondern unterdrücken und betäuben. Oder weil wir zu jung waren, um traumatischen Stress adäquat abreagieren zu können.
Traumafolgestörungen wie PTBS, das posttraumatische Belastungssyndrom, entstehen, wenn unser Nervensystem auch nach dem bedrohlichen Ereignis noch immer im Erregungszustand verharrt. Damit ist PTBS also kein psychologisches, sondern ein körperliches Problem – das Trauma ist buchstäblich in unser Nervensystem und in unser Gehirn eingraviert und richtet dort, wenn es nicht behandelt wird, körperliche und psychische Schäden an.
Während der Arbeit an meinem Roman AM BODEN DES HIMMELS habe ich mich eingehend mit der Thematik von kollektivem Trauma und Traumafolgestörungen beschäftigt, denn der Roman spielt im Nahen Osten – in einer der Regionen, die am meisten von Trauma betroffen sind. Dabei ist AM BODEN DES HIMMELS kein Roman über den Krieg, sondern vor allem eine Geschichte über die Überwindung von Trauma.
Layla, die palästinenische Protagonistin, erlebt das kollektive Trauma des Holocaust, also das Trauma der Gegenseite am eigenen Leib in Form von plastischen Träumen. Dieses „fremde“ Trauma ermöglicht es ihr, sich in den Feind hineinzuversetzen und damit in gewisser Weise sich selbst zu heilen.
Trauma als heilsames Element also? Das Stilmittel des Magischen Realismus macht es möglich, zumindest in der Literatur.
Doch tatsächlich gibt es so etwas wie „Traumatic Growth“ – der Energie- und Kreativitätsschub, der mit der Heilung und Überwindung eines Traumas einhergeht. Denn Trauma ist heilbar, so ganz prinzipiell.
Mein Mittel der Wahl bei der Heilung von psychischen Schmerzen in all ihren Ausprägungen war schon immer das Schreiben.
Im Geschichtenerzählen liegt eine heilsame Kraft, das hängt mit unseren Spiegelneuronen zusammen.
Geschichtenerzählen ist Probehandeln. Unser Gehirn unterscheidet nicht, ob ein Erlebnis und die dazu gehörigen Emotionen real erfahren wurde, oder ob wir die Emotionen einer gut erzählten Geschichte erlebt haben. Beim Schreiben ist also eine gewisse Art von Aufarbeitung und Entlastung möglich, was vor allem das kreative Schreiben zu einem probaten Mittel zum Stressabbau macht – auch und gerade in einer belastenden Situation wie der Corona-Pandemie!
Trauma und die Überwindung von Traumata in ihren mannigfaltigen Ausprägungen – das ist das zentrale Thema fast jeder Geschichte, die ich zu Papier bringe. Ich weiß nicht, warum das so ist. Vielleicht liegt es daran, dass ich biografisch mit einem Bein in Deutschland und mit dem anderen im Nahen Osten stehe – eine Konstellation, die auf mehr als einer Ebene irgendwie schizophren ist, wenn man es sich mal genau überlegt.
Schreiben ist also heilsam, gerade in schwierigen Zeiten. Was nicht heißen soll, dass ich nun einen dieser gefürchteten Corona-Romane schreibe, in denen es um den Horror im Homeoffice oder die Langeweile im Lockdwon geht – ganz im Gegenteil. Die beiden Romane, die ich gewissermaßen „in der Pipeline“ habe, drehen sich – soviel sei verraten – um Gott und die Welt und darum, wie wichtig es ist, ab und zu den Verstand zu verlieren.