… nach Halle, nach Christchurch, nach Kassel, nach München, nach Utøya, nach…? Wie geht es euch?
Wie geht es euch, wenn ihr mittags beim Dönermann steht? Wenn ihr abends von der Arbeit kommt? Wenn ihr zwischen Fußgängerzone und U-Bahn noch schnell das Handy checkt und lest, dass schon wieder ein Nazi unschuldige Menschen ermordet hat? Wie geht es euch, wenn ihr Abends eine Talkshow einschaltet und da sitzt dann der Quoten-AFDler und sagt „aber“ und meint „na und“?
Wie geht es euch da?

Als ich heute morgen, noch halb schlafend und innerlich noch ganz von Nacht durchzogen die Nachrichten gescrollt habe, da war ich erschrocken. Ich war erschrocken über das Nicht-erschrecken. Ich war erschrocken über die Beiläufigkeit, mit der diese Nachricht in meinen Tag und in mein Bewusstsein trat.
Denn dieser Terrorakt kommt, wie auch die anderen rechtsradikalen Anschläge, nicht überraschend. Der Anschlag war natürlich vorbereitet.
Der Täter, ein erfolgloser, wütender Mann mittleren Alters, verschwörunstheorieaffin und alles hassend, was nicht in sein Weltbild passte, hat nur ausagiert, was längst in der Luft lag: Hass, der über Jahre, Jahrzehnte hinweg vor sich hin schwelte. Hass, der sich manifestierte in Worten wie „Vogelschiss“, „Flüchtlingswelle“, „Asylmissbrauch“, „Danke Merkel“ und „Jetzt muss auch mal gut sein, mit der Erinnerungskultur“.
Hass, der sich niederschlug in Worten wie „wohltemperierte Grausamkeit„, die der Faschist Höcke unseren geflüchteten Mitbürger*innen angedeihen lassen möchte.
Welche Kraft in Worten steckt, wissen nicht nur wir Schriftsteller*innen.

Dass aus diesen Worten irgendwann Taten würden, war eigentlich klar, oder? Aber warum tun dann alle so überrascht?

Letzte Woche erst erfuhren wir aus den Medien von der Existenz einer extremistischen rechten Terrorgruppe, die europaweite Anschläge von bürgerkriegsähnlichen Ausmaßen plante. Wo war denn der Aufschrei?
Seit Jahren wird Hass salonfähig gemacht. Immer in kleinen, fein dosierten Portionen. Immer eine Grenzüberschreitung nach der anderen. All das jedoch nicht nur in Stammtischen, sondern auch in unseren Parlamenten, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, auf der Straße, auf Bühnen, in Buchhandlungen, im öffentlichen Raum.
Wenn in Teilen von etablierten Parteien plötzlich darüber nachgedacht wird, mit der AFD zu kollaborieren (und dann tatsächlich kollaboriert wird!), wenn die menschenverachtende Ideologie relativiert und verharmlost wird, wenn solche Äußerungen, solche Taten, solche Ideologien nicht mehr abgrundtiefes Entsetzen, abgrundtiefen Abscheu und brüllenden Zorn hervorrufen, sondern Gleichgültigkeit, Apathie und fruchtlose Diskussionen auf Metaebene… dann stecken wir schon knietief im braunen Sumpf.

Wir wissen aus Studien, dass Extremisten jeglicher Art umso stärker sind, je passiver die Gesellschaft reagiert. Eine Gesellschaft, die stillschweigend duldet, dass menschenverachtende Äußerungen fallen, wird zum Steigbügelhalter des Hasses.
Und ja, es geht in erster Linie darum, auf solch kleine, harmlos erscheinende Äußerungen zu reagieren. Sensibel zu sein und wachsam.

Rechtsradikale Terroristen hassen nicht nur Geflüchtete, People of Color, Juden, Muslime und „linksgrünversiffte Gutmenschen“, sie hassen unsere ganze Gesellschaft. Sie hassen Frauen, den Feminismus, LGBTQ-people und alle, die sich für ein demokratisches, offenes, freundliches und tolerantes Miteinander einsetzen. Und hier spreche ich nicht nur von Menschen wir mir selbst, also von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in diesem Land zunehmend unsicher und gefährdet fühlen. Rechter Terror gefährdet uns alle.
Gefährdet sind nicht nur Türken, Kurden und Araber in verrauchten Shishabars. Gefährdet sind nicht nur Juden, die in Synagogen beten. In Gefahr sind nicht nur Personen des öffentlichen Lebens, die sich klar auf der Seite der Toleranz positionieren, sondern wir alle. In Gefahr ist unsere gesamte demokratische Gesellschaft mitsamt den Freiheiten und Grundrechten, die wir so selbstverständlich genießen.

Für People of Color sind Shishabars und Cafés oft Safe Spaces, also Rückzugsorte, in denen sie sich sicher und zuhause fühlen können, ohne Angst vor blöden Sprüchen, ohne Angst vor Rassismus. Ein Anschlag auf eine Shishabar ist ein Anschlag auf uns alle. Ein Anschlag auf eine Synagoge, ist ein Anschlag auf unsere eigene Demokratie. Das hier geht uns alle an.
Denn in dem Moment, in dem arabischstämmige Jugendliche und ihre deutschen Freunde Angst haben, sich in der Shishabar um die Ecke zu treffen, ist unsere eigene Freiheit gefährdet. In dem Moment, in dem Juden aus Angst die Kippa nicht mehr tragen, in dem muslimische Frauen und Mädchen aus purer Angst vor Rassismus das Kopftuch ablegen, in dem Moment ist unsere Integrität in Gefahr.
Wenn dunkelhäutige Kinder vom Dreirad getreten werden, geht nicht nur unsere eigene Moral, sondern auch unsere gesamte Gesellschaft den Bach runter.
Das dunkelhäutige Kind ist unser eigenes. Die dreifache Mutter, die in der Shishabar ermordet wurde, ist unsere eigene Frau. Der Jude, der zum Beten Polizeischutz braucht – das sind wir selbst.

Fragen wir einander also bitte noch viel mehr als bisher: Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Was kann ich tun, damit es dir gut geht? Wie kann ich helfen, damit es dir besser geht, hier in diesem Deutschland? Hier in dieser Welt?
Fragen wir die Frau mit dem Kopftuch, den Mann mit dem anhängigen Asylverfahren, fragen wir die Aktivistin, die Lehrerin, den Sozialarbeiter, den Dönermann und den Vater, der morgens sein Kind mit dem Lastenfahrrad zur Kita bringt. Fragen wir die Eltern, die Geschwister, die Freunde und Verwandten. Fragen wir Fremde auf der Straße, lasst uns einander Hilfe anbieten, ein Lächeln, ein paar aufmunternde Worte, um dem Hass etwas entgegen zu setzen! Lasst uns auf jeden Akt der Gewalt mit noch mehr Freundlichkeit, noch mehr Liebe, noch mehr Respekt und Achtung reagieren!

Aber lasst uns nicht nur miteinander sprechen, lasst uns nicht nur in unserer eigenen Filterblase verharren. Sprechen wir auch mit dem Onkel mit rassistischem Gedankengut! Sprechen wir mit den Politikern, die da draußen im Moment Wahlkampf betreiben. Sprechen wir mit den Jugendlichen, die sich orientierungslos fühlen! Sprechen wir, wenn es irgend möglich ist, auch mit all den brüllenden, geifernden und spuckenden Hassern da draußen, zeigen ihnen klare Kante aber erklären ihnen auch, dass es einen Ausweg aus diesem System des Hasses gibt.
Extremismusforscher wissen, dass die Strukturen in der rechten Szene denen in einer Sekte ähneln: Rechtsextremismus fängt die Verlorenen ein, die Gescheiterten, die Suchenden, die Ängstlichen, die Orientierungslosen, die Gedemütigten, die Einsamen, die Verzweifelten. Rechtsextremistische Gruppierungen bieten denen ein Zuhause, die sich verzweifelt nach Geborgenheit und Stärke sehnen. Menschen wie Björn Höcke bieten jenen eine starke Schulter zum Anlehnen, die sich abgehängt und frustriert fühlen. Rechte Verschwörungstheoretiker streicheln diesen Menschen zärtlich über den Kopf und drücken sie fest an ihre Brust, um sie in ihr System zu ziehen, sie zu absorbieren, sie ganz und gar hörig zu machen.
Das dürfen wir nicht zulassen. Schon aus Eigeninteresse nicht!
Denn es gibt Auswege aus diesem Sumpf.

Rassismus und rechtsradikale Ideologien dürfen niemals Teil des politischen Diskurses werden, unter keinen Umständen! Menschen mit rassistischem, völkischem und rechtsradikalem Gedankengut müssen in ihre Schranken gewiesen werden, ihnen muss laut, deutlich und unmissverständlich widersprochen werden, immer und immer wieder.
Denn genau dadurch schaffen wir einen sicheren, tragfähigen Boden für die Demokratie. Nur so können wir auch Menschen helfen, die aus der rechten Szene aussteigen möchten, nur so können wir uns als selbstbewusste Demokraten dem rechten Terror entgegenstellen.

So viele tun dies bereits mit großem Engagement:
Der SPD-Politiker und Schriftsteller Karamba Diaby, die Schriftstellerin Sybille Berg, die Aktivistin Kübra Gümüşay, um nur einige zu nennen. Da draußen gibt es so viele tolle Menschen, die täglich dafür arbeiten, dass dieses Land nicht den Spaltern überlassen wird. Lasst uns also einander stärken!

Joana Osman
20. Februar 2020